Position: Alte Leitsätze infrage gestellt- Versicherungen in der digitalen Welt

Position: Alte Leitsätze infrage gestellt- Versicherungen in der digitalen Welt

Die Zukunft der Versicherung im digitalen Zeitalter ist ein derzeit viel diskutiertes Thema. Dafür gibt es gute Gründe: Einerseits sind durch die Digitalisierung bereits klassische Branchen durcheinandergewirbelt worden, alteingesessene Großunternehmen verschwunden und neue Unternehmen in kurzer Zeit sehr groß geworden. Andererseits ist Versicherung im Kern ein sehr abstraktes Produkt, das auf Risiken und Zahlungsströmen – also Informationen und ihrer Verarbeitung – beruht. Insofern kann und wird Versicherung durch neue Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und -verfügbarkeit beeinflusst werden.

Der Begriff Digitalisierung ist oft etwas unscharf. Die weiteren Ausführungen bauen auf folgende Definition: Digitalisierung ist die Auswirkung der digitalen technischen Entwicklung auf die Gesellschaft. Sie umfasst damit Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen und damit auch das soziale Miteinander, ebenso wie Auswirkungen auf die Wertschöpfungskette. Digitalisierung geht damit weit über reine Automatisierung von Prozessen hinaus.

Digitalisierung bedeutet zunächst eine dramatische Veränderung im Umgang mit Daten und Informationen, ihrer Analyse und der Ableitung von Entscheidungen. Klassische Versicherungsprodukte
sind – technisch gesprochen – Zahlungsströme und damit im bargeldlosen Zeitalter Informationen, die auf Basis von bestimmten anderen Informationen festgelegt werden, zum Beispiel Tarifierungsmerkmalen oder dem Eintritt eines bestimmten Ereignisses (Schadenfall). Damit ist das Geschäftsmodell Versicherung prinzipiell sehr anfällig, durch die Digitalisierung deutlich verändert zu werden. Verschwinden wird das Konzept einer Versicherung, eines Risikoausgleichs in Kollektiven und über Zeit dabei aber nicht, denn Zufall existiert weiterhin. Wie aber Versicherung aussieht, “hergestellt” und verkauft wird, ist variabel und wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark verändern.

Verschwinden wird das Konzept einer Versicherung, eines Risikoausgleichs in Kollektiven und über Zeit dabei aber nicht, denn Zufall existiert weiterhin. Wie aber Versicherung aussieht, “hergestellt” und verkauft wird, ist variabel und wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark verändern.

Versicherungsgeschäft ist nicht so leicht disruptiv zu verändern

Warum ist die Versicherungsbranche dann nicht bereits massiv verändert worden, wie beispielsweise die Branche der Reisevermittler? Einerseits natürlich aufgrund der vorgeschriebenen Regulatorik. Aber selbst das ist – wie Insurtechs mit eigenen Versicherungslizenzen zeigen – kein unüberwindliches Hindernis. Der Grund ist nach meinem Eindruck ein anderer: Es ist gar nicht so leicht, das Versicherungsgeschäft als Ganzes durch Digitalisierung disruptiv zu verändern. Dazu zwei Beispiele:

Wann empfindet der Kunde eine Veränderung als massiv spürbare Disruption? Beispielsweise wenn sich die Leistung bei gleichem Preis verdoppelt oder wenn sich der Preis bei gleicher Leistung halbiert.

Das im Versicherungsumfeld zu erreichen, gestaltet sich schwierig: Bei typischen Sparten im Schaden-Unfall-Geschäft zum Beispiel machen die “Costs of Goods Sold” (das ist in etwa die Schadenquote) mehr als 50 Prozent der Prämie aus. Dieselbe Leistung dann zum halben Preis zu erbringen funktioniert nur, wenn man einzelne Segmente identifiziert, die eine deutlich bessere Schadenquote haben. Dann braucht man bessere Daten und muss die Komplexität, die durch solche gegenüber heute vertiefte Segmentierung und Tarifierung steigt, im Griff behalten. Nicht unmöglich, aber auch nicht so einfach.

Da von den Kosten rund zwei Drittel im Vertrieb anfallen, liegt es nahe, sich für die Disruption vor allem auf den Vertrieb beziehungsweise die Kundenschnittstelle zu fokussieren.

Daher tat sich in der ersten Welle eine ganze Reihe an Fintechs hervor, die zum Beispiel elektronische Versicherungsordner lanciert haben. Tatsächlich ist Vertrieb online aber keineswegs automatisch günstiger als offline, denn am Ende zählt die Aufmerksamkeit der Kunden. Diese zu erringen kostet Geld: sowohl die klassische Provision für einen Vermittler “offline” als auch Provision für einen Aggregator “online” oder die Kosten für Google zum Beispiel anderes Marketing. Für ein Start-up ist dennoch der Online-Kanal recht attraktiv, da er sich sehr viel schneller hochskalieren lässt als klassische Kanäle, welche man erst aufbauen müsste.

Das soll aber nicht bedeuten, dass Versicherer sich beruhigt zurücklehnen können: Die fundamentalen Kräfte – insbesondere die weiterhin exponentiell steigende Verfügbarkeit von Daten und Rechenleistung – verändern das Geschäft. Man kann auf die einzelnen Elemente der Wertschöpfungskette schauen, um einen Eindruck zu bekommen, wie Digitalisierung sich auswirken kann.

Dazu starten wir beim Kunden und seinen Bedürfnissen: Diese verschieben sich. Kunden werden anspruchsvoller hinsichtlich Transparenz und Bequemlichkeit – wobei diese beiden Faktoren durchaus einander widersprechen können.
Gleichzeitig bleibt das Grundbedürfnis der Kunden: Sie wollen sichergehen, dass sie im Falle eines Falles versichert sind. Kunden wollen sich dabei fair behandelt fühlen. Sie wollen in ihrer Individualität verstanden werden. Damit werden weiche Faktoren wie Empathie und Verständlichkeit an der Kundenschnittstelle wichtiger – zumal Kunden ihre Eindrücke über soziale Netzwerke teilen. Marke, das Markenversprechen und seine Einhaltung gewinnen an Bedeutung; ein für den Kunden als vernünftig empfundenes Preis-Leistungs-Verhältnis ist hingegen Hygienefaktor und typischerweise nicht Hauptverkaufsargument.

Die Tarifwelt wird zur Commodity

Im Produktmanagement bedeutet das, dass die klassische Tarifwelt, in der man vor allem Zahlungsströme definiert und verwaltet hat, immer mehr zur Commodity wird. Ausnahmen wird es nur
dort geben, wo der Versicherer Zugang zu proprietären Daten oder dem Wettbewerb deutlich überlegene analytische Fähigkeiten hat. Das erinnert ein wenig an heutiges Trading, auch wenn es mangels Nutzen voraussichtlich nicht zu “High Frequency Insurance Policies” kommen wird.

Wenn der Zahlungsstrom und die Risikoeinschätzung aber mehr und mehr Commodity werden, werden Produktkomponenten wie beispielsweise verbundene Dienstleistungen wichtiger. Durch Dienstleistungen und ihre Ausgestaltung an der Kundenschnittstelle kann sich ein Versicherer auch dann noch differenzieren, wenn das dahinterstehende versicherungstechnische Produkt weitgehend identisch ist. Das bedeutet auch, dass sich für Rückversicherer neue Optionen ergeben in den Markt zu gehen, indem sie nämlich ihre versicherungstechnische Expertise mit den Fähigkeiten von Dienstleistern an der Kundenschnittstelle verbinden.

Auflösung der Tariflogik durch Künstliche Intelligenz?

Will man im Underwriting und der Tarifierung noch einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil behalten, wird dies nur möglich sein, wenn man mehr Informationen und Daten sowie bessere Analysefähigkeiten als der Wettbewerb hat, um heutige Tarife weiter zu verfeinern. Zugang zu solchen Daten und analytische Fähigkeiten werden immer wichtiger.

In fernerer Zukunft ist sogar denkbar, dass zum Beispiel durch Einsatz künstlicher Intelligenz die heutige Tariflogik vollständig aufgelöst wird und auch im Retailgeschäft – ähnlich wie heute schon im Firmenkundengeschäft – jeder Kunde mit seinen Risiken individuell bepreist wird statt einen standardisierten Preis zu erhalten.

Aufmerksamkeit wird gekauft

Im Marketing und Vertrieb wird es schwerer und teurer, die Aufmerksamkeit der Kunden zu erringen. Zudem wird sie immer mehr ein bepreistes Gut: Früher schenkten Kunden ihre Aufmerksamkeit, heute kauft man sie als Anbieter. Dabei ist es nicht auszuschließen, dass vor dem Hintergrund zunehmender Privacy- und Datenschutzanforderungen irgendwann Kunden eine Gebühr dafür verlangen, Werbung zur Kenntnis zu nehmen. Erste Ansätze gibt es dafür bereits und jede durch Werbung finanzierte Dienstleistung ist dafür ein indirektes Beispiel.

Durch mehr Daten und darauf basierender Analytik kann man auch hier zielgenauer spezifische Segmente ansprechen. Eine Marke wird damit ein sehr wichtiges Merkmal des Anbieters, der nicht nur
Produktgeber und Commodity sein will. Marke wird Teil des Produktdesigns, um sich von anderen Angeboten abzugrenzen, zum Beispiel dem Kunden das zu bieten, was er tatsächlich will, nämlich
emotionale Sicherheit.

Hinzu kommt die weiter wachsende Bedeutung von virtuellen Gemeinschaften und Empfehlungen: Sei es zwischen Freunden oder sei es zwischen Menschen, die sich nicht kennen, aber vor ähnlichen Entscheidungen stehen. Auch dies muss mehr und mehr aus dem Marketing heraus gesteuert werden. Soziale Netzwerke sind in ihrem Kern – wenn man sie aus der Perspektive physikalischer Modelle betrachtet – hochkonnektive Netze, mit der Möglichkeit für plötzliche Phasenübergänge und damit sprunghafter Veränderung des beobachteten Verhaltens. Bedeutet: Menschen – und damit Kunden – stehen untereinander in Verbindung und beeinflussen sich wechselseitig. Schon kleine Einflüsse können zu blitzschnellen (Richtungs-)Änderungen führen und vom Kleinen in eine Massenbewegung umschlagen. Versicherer müssen sich dessen bewusst werden, derartige Entwicklungen verfolgen und bestenfalls zielgerichtet für sich nutzen.

Im Vertrieb wird es verschiedene, teilweise sogar scheinbar gegensätzliche Entwicklungen geben:

  • – Einerseits wird Online-Vertrieb sicher weiter zunehmen, indem Produkte transparenter und automatisierte Beratung besser werden.
  • – Beratungsbedarf wird es aber weiterhin geben. Auch das emotionale Bedürfnis der Kunden, bei schwierigen Entscheidungen einem Menschen und nicht einer Maschine vertrauen zu können, bleibt bestehen.

Insofern wird es andererseits weiterhin eine Rolle für den personalen Vertrieb geben, der aber durch die digitalen Mittel schlagkräftiger gemacht werden muss. Kommunikation im Allgemeinen erfolgt zu immer größerem Anteil digital und online. Dementsprechend müssen auch Vermittler mit ihren Kunden auf diesem Weg interagieren – authentisch und souverän. Jede Handlung “online” erzeugt wiederum Informationen, wodurch die Menge an Daten wächst. Mit entsprechenden Fähigkeiten und analytischen Werkzeugen können Vermittler aus diesen Datenmengen wichtige Informationen zu ihren vorhanden, aber auch zu potenziellen Kunden ziehen.

Die Kombination aus bewusster, digitaler Kommunikation und der gezielten Nutzung sowie Verwertung von Daten wird künftig über den Erfolg im Vertrieb entscheiden. Denn zum einen können Kunden so besser beraten werden – was den Unterschied zwischen persönlicher und rein digitaler Beratung macht. Und zum anderen können Vermittler besser prognostizieren, welchen Kunden man mit welchem Thema auf welche Weise am besten angehen, zum Beispiel betreuen kann.

Für Tätigkeiten, die nicht in unmittelbarer Interaktion mit dem Endkunden stehen (zum Beispiel Nachbereitung von Kundenterminen), wird die Automatisierung zunehmen. Das gleiche gilt für
Tätigkeiten, welche durch digitale Prozessverbesserungen einfach an den Kunden verlagert werden können und vor dem Kundentermin oder direkt währenddessen erledigt werden. Allerdings ist jede
Kundeninteraktion, auch eine rein automatisierte, immer eine Gelegenheit, den Kunden positiv zu überraschen.

Kundenkontakt bedeutet Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit des Kunden ist, wie gesagt, ein Wert. Wie ein Unternehmen die Balance zwischen Kosten und wahrgenommener Qualität der
Kundeninteraktion findet, wird damit ein zentraler Bestandteil der Markenwahrnehmung werden. 

Versicherung ist de facto im Kern ein Informationsgeschäft. Also werden Versicherer de facto Technologieunternehmen wie Google, Facebook und Amazon ähnlicher werden müssen. Der chinesische
Versicherer Ping An macht das vor. Für die IT bedeutet das eine Abkehr von gewohnten Arbeits- und Architekturmodellen; die Wendung hin zu APIs, Microservices und agilen Arbeitsmethoden hat in allen Häusern bereits Fuß gefasst.

Assekuranz muss bei IT-Sicherheit und Datenschutz führen

Wichtiger als spezifische Systeme werden einerseits Daten und Algorithmen – vor allem Daten, die proprietär gehandhabt werden können. Andererseits rückt die Beherrschung eigener und fremder offener Schnittstellenlandschaft in den Fokus. Das heißt, dass Versicherer ihrerseits IT-Schnittstellen im gängigen Format zur Verfügung stellen, sich öffnen und eine Konnektivität mit der “Außenwelt” – also anderen Unternehmen und Dienstleistungen – ermöglichen müssen.
Herausfordernd ist dies vor allem wegen der hohen Vertraulichkeit vieler Daten, die Versicherer von ihren Kunden erhalten. Dies bedeutet auch, dass Versicherer beim Thema IT-Sicherheit und Datenschutz führend sein müssen.
Jede der aufgezeigten Veränderungen, Entwicklungen und Chancen stellt für sich bereits eine kleine Revolution dar. Zusammengefasst kommt auf die Versicherer ein schwerer Sturm von Herausforderungen zu, der alte Leitsätze umfassend infrage stellen wird.

Kann man prognostizieren, wer diesen Sturm überleben oder in ihm sogar gewinnen wird? Das ist sicher schwierig, denn die Ausgangslage in jedem Haus ist eine andere. Ähnlich wie in der Evolution wird aber vermutlich nicht zwingend der gewinnen, der jetzt oder an irgendeinem Punkt in der Zukunft gerade die stärkste Performance zeigt, sondern derjenige, der sich den heraufziehenden Sturmböen und Wellenbergen am flexibelsten anpassen kann.

Die Veränderungsgeschwindigkeit “draußen” nimmt weiter zu. Beim Sommermärchen 2006 gab es noch kein I-Phone, keine Apps. Heute ist das Standard. Wer will, wer kann vorhersagen, welche derartigen Veränderungen es in den kommenden fünf oder zehn Jahren geben wird? In den Versicherungsunternehmen müssen wir aber mit dieser steigenden Veränderungsgeschwindigkeit umgehen – und das bedeutet, die Organisation, ihre impliziten Leitsätze, ihre Kultur entsprechend zu verändern. Innovationsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit an plötzliche Veränderungen im Umfeld,
Zusammenarbeit über Funktionen hinweg und Exzellenz in der pragmatischen Umsetzung von Ideen werden entscheidende Fähigkeiten für den Erfolg eines Versicherungsunternehmens sein.


Dr. Alexander Bernert ist Head of Innovation & Market Management der Zurich Gruppe Deutschland. Dieser Gastbeitrag erschien in Bank und Markt. Weitere Beiträge von ihm zum Thema der Innovationsfindung erschien auf dem Blog des Fraunhofer-Instituts sowie in der Versicherungswirtschaft.

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